Kein lorem ipsum!

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Die zwei folgenden Texte aus der Linotype-Post von Juni 1959 haben mir nicht nur inhaltlich gefallen – sie zeigen auch schön mehrere Gesetzmäßigkeiten, die bei der Auswahl von Schriften durch Blindtexte bzw. bei der Gestaltung von Schriften selbst relevant sind.

„Deshalb habe ich oft den Eindruck, dass von alledem, was menschlicher Fleiß für die Gestaltung des Lebens erfunden hat, nichts so nützlich sei als der Gebrauch der Buchstaben, und dass keine Kunst hervorragender sei als die Betätigung der Drucker. Was ist denn beglückender, als mit den gebildetsten und zugleich verehrungswürdigsten Persönlichkeiten, so oft du Lust verspürst, zu plaudern und den Geist, den Charakter, das Denken, Wollen und Handeln derer, die vor uns lebten, so gut zu kennen, als ob man gleichzeitig mit ihnen gelebt hätte?“ Erasmus von Rotterdam

Nun noch einmal derselbe Text auf Lateinisch:

„Quamobrem mihi sæpe videri solet inter omnia, quæ in usum vitæ mortalium industria reperit, nihil esse utilius quam usum literarum, neque ullam artem præstantiorem opificio typographorum. Quid enim felicius quam cum eloquentissimis simul & sanctissimis viris, quoties lubitum est, confabulari, neque minus habere perspectum illorum, qui ante nos vixerunt, ingenium, mores, cogitationes, studia, facta, quam simultis annis egisses cum illis consuetudinem?“ Erasm. Roterodam

Verwendet wird beide Male dieselbe Schrift. Die Wirkung des lateinischen Textes ist aber eine ganz andere – ganz so, als sei dieser aus einer ganz anderen Schrift oder mit typografischen Modifikationen gesetzt!

Hauptverantwortlich dafür sind (neben der Häufung der senkrechten Striche) vor allem die kaum vorkommenden Versalien. Im Lateinischen werden nur Eigennamen bzw. ihre Ableitungen groß geschrieben und meist Satz- bzw. Versanfänge (daneben noch die Namen der Monate und evtl. Hervorhebungen). So bekommt der zweite Text eine ruhige, eher bandartige Zeilenwirkung.

Deutsch ist dagegen eine Sprache mit ausgesprochen vielen Versalien. Dies ist auch der Grund dafür, dass nichtdeutsche Schriften traditionell eine kleinere Versalhöhe im Bezug zu den Gemeinen besaßen als deutsche Schriften. In Texten mit wenigen Versalien würden zu hohe Versalien noch störender aus dem Satz herausschauen.

Bereits in der Renaissance hat man erkannt, dass Versalien – um nicht zu plump zu wirken – sogar kleiner als die Oberlänge der Kleinbuchstaben sein müssen. Auch heute ist in Schriften mit Renaissance-Charakter das ‚h‘ höher als das ‚H‘.

Auch die nordamerikanische Schriftgießerei ITC zeichnete bis in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts ihre Schriften mit relativ hoher x-Höhe (bzw. im Verhältnis dazu relativ kleiner Versalhöhe).
Heutzutage werden Schriften grundsätzlich für den internationalen Markt erstellt – z. B. können GTF-Pro-Schriften in über 45 Sprachen verwendet werden!

Will man also eine Schrift testen, sollte man auf keinen Fall einen nichtssagenden Blindtext oder anderssprachige Texte verwenden (z. B. nicht „asdf asdf“, „Lorem ipsum…“ oder „The quick brown fox…«), sondern immer einen Text in der Sprache, für die eine Schrift später auch verwendet werden soll!

Viele gute (lizenzfreie) deutsche Texte findet man z. B. im Projekt Gutenberg.


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